Frau Lenzlinger, Sie appellieren an die Unternehmer, Verantwortung für ein funktionierendes Gemeinwesen zu übernehmen. Was heisst das für den Standort Zürich?
KL: Zürichs Erfolg ist kein Automatismus und erst recht kein Versprechen für morgen. Er beruht auf dem Gestaltungswillen und dem Zusammenspiel von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. In der Vergangenheit konnte man sich auf vorteilhafte ordnungspolitische Rahmenbedingungen verlassen. Das hat sich vor allem seit Corona deutlich geändert. Es braucht angesichts der grossen Herausforderungen in der Unternehmensführung vor allem auch ein attraktives Umfeld, das erfolgreiches Unternehmertum ermöglicht. Gefragt sind Unternehmerinnen und Unternehmer, die sich ihrer Vorbildfunktion über das eigene Unternehmen hinaus bewusst sind
Wie ist das zu verstehen?
KL: In Zeiten steigender Unsicherheit braucht die Politik vermehrt Hinweise aus den Unternehmen. Da die Belastung auf beiden Seiten aber gross ist, kann die Zürcher Handelskammer eine Rolle spielen. Sie setzt sich am Scharnier zwischen Politik und Wirtschaft zum Wohl der Unternehmen, aber auch der Menschen im Wirtschafts- und Lebensraum Zürich ein. Auch wenn der Trend gerade in eine andere Richtung geht, setzen wir uns vehement für eine offene, liberale Wirtschaft ein, vertreten die politischen Interessen unserer Mitglieder und stehen in einem konstruktiven Dialog mit der Politik, den Behörden und der Öffentlichkeit.
Herr Tschanz, welche Rolle spielt die Zürcher Handelskammer für die Standortpolitik?
RT: Die Zürcher Handelskammer ist am Puls der Politik und nimmt dort Einfluss, wo es für ihre Mitglieder entscheidend ist – nämlich vor allem auf kantonaler Ebene. Rund 45 Prozent der öffentlichen Ausgaben in der Schweiz entfallen auf die Kantone, 30 Prozent auf den Bund und 25 Prozent auf die Gemeinden. Es sind also primär die Kantone, die über zentrale Standortfaktoren wie Steuern, Raumplanung, Bildung, Energie und Mobilität entscheiden. Standortpolitik beginnt nicht in Bern, sondern hier vor Ort.
Was heisst das konkret für die Arbeit der Zürcher Handelskammer?
RT: Die Zürcher Handelskammer engagiert sich als Stimme und kampagnenstarke Organisation der Wirtschaft im politischen Prozess. Sie vertritt dabei über 1200 Unternehmen jeder Grösse und aus praktisch jeder Branche. Diese Breite unterscheidet uns von anderen Verbänden. Wir stärken frühzeitig die Positionen der Wirtschaft, suchen den Dialog mit Entscheidungsträgern und bringen die Sicht unserer Mitglieder ein.
Wo orten Ihre Mitglieder aktuell den grössten Handlungsbedarf, Frau Lenzlinger?
KL: Die grösste Belastung ist sicher die stetig zunehmende Regulierungsdichte. Der administrative Aufwand hat ein Ausmass erreicht, das die Unternehmen ausbremst. Diese brauchen nicht mehr Regeln, sondern endlich wieder mehr Handlungsspielraum. Eine spürbare Entlastung ist dringend notwendig, auch um im internationalen Wettbewerb nicht weiter an Boden zu verlieren. Und es gilt zu verhindern, dass die Lohnkosten mit dem laufenden, von Begehrlichkeiten geprägten Ausbau der Altersvorsorge zur nächsten Standortbremse werden.
Wo orten Ihre Mitglieder aktuell den grössten Handlungsbedarf, Frau Lenzlinger?
KL: Die grösste Belastung ist sicher die stetig zunehmende Regulierungsdichte. Der administrative Aufwand hat ein Ausmass erreicht, das die Unternehmen ausbremst. Diese brauchen nicht mehr Regeln, sondern endlich wieder mehr Handlungsspielraum. Eine spürbare Entlastung ist dringend notwendig, auch um im internationalen Wettbewerb nicht weiter an Boden zu verlieren. Und es gilt zu verhindern, dass die Lohnkosten mit dem laufenden, von Begehrlichkeiten geprägten Ausbau der Altersvorsorge zur nächsten Standortbremse werden.
RT: Auch bei den Unternehmenssteuern besteht Handlungsbedarf. Zürich liegt im interkantonalen Vergleich auf dem vorletzten Platz und hat seit 2006 zwölf Plätze eingebüsst. Diese Entwicklung hinterlässt Spuren: Seit Jahren ziehen mehr Unternehmen weg, als zu uns kommen. Das schwächt den Standort und kostet Steuersubstrat. Zürich muss dringend nachbessern, um konkurrenzfähig zu bleiben. Besonders dringlich ist zudem die Schaffung von Wohnraum. Nur ein grösseres Angebot kann die Mietpreisdynamik dämpfen. Es ist ein Irrglaube, dass ein Mehr an Regulierung zu einer Ausweitung des Wohnangebots führt. Seit Jahren zeigen genügend Beispiele in anderen Kantonen, dass das Gegenteil der Fall ist.
«In Zeiten steigender Unsicherheit braucht die Politik vermehrt
Hinweise aus den Unternehmen.» Karin Lenzlinger
«Konkurrenzfähig bleiben» ist das Stichwort, Frau Lenzlinger. Die Debatte über die Zukunft des bilateralen Wegs mit der EU tritt in eine entscheidende Phase. Wie wichtig ist dieser Weg für den Standort?
KL: Die Schweiz hat einen bedeutenden exportorientierten KMU-Sektor und einen vergleichsweise kleinen Binnenmarkt. Der europäische Markt ist für viele Branchen der eigentliche «Heimmarkt». Über 55 Prozent unserer Industrieexporte gehen in die EU. Ein verlässlicher Zugang zu diesem Markt ist deshalb zentral für die Betroffenen.
Aber das Vertragspaket wird der Schweiz neue Regeln auferlegen, die uns allenfalls in unseren demokratischen Prozessen einschränken.
KL: Richtig, das trifft allerdings nur sehr beschränkt auf die sektoriellen Abkommen zu. Wobei wir entgegen unserem Schweizer Naturell lernen müssen, den Mut zu haben zu verhandeln, wenn es für die Schweiz zu weit ginge in der Interpretation einzelner Regeln. Zudem habe ich noch nie von einem Vertrag gehört, der nur einseitige Vorteile gewährt, und wir möchten ja einen privilegierten Zugang zu einem wichtigen Markt. Wir haben es hier mit einem für die Schweiz und die betroffenen Wirtschaftssektoren einschliesslich der Wissenschaft weitgehend massgeschneiderten Verhandlungsergebnis zu tun. Schauen Sie einmal die Alternativen an.
Es ist zudem die konsequente und von fast niemandem bestrittene Weiterführung des bereits seit Jahrzehnten erfolgreichen bilateralen Wegs. Als Zürcher Handelskammer stehen wir seit über 150 Jahren für offene Märkte und Freihandel ein. Weitere Freihandelsabkommen anzustreben ist ebenso wichtig. Das eine zu tun und das andere nicht zu lassen ist kein Widerspruch, sondern wirtschaftspolitische Vernunft. Dass die USA mit neuen Zöllen protektionistische Signale senden, ist hingegen bedenklich und unterstreicht die Bedeutung des bilateralen Wegs mit der EU.
Herr Tschanz, die Zahl der Erwerbstätigen wird mit der Pensionierung der Babyboomer-Generation stark zurückgehen. Um diese Lücke zu schliessen, bräuchte es mehr qualifizierte Arbeitskräfte von aussen. Doch die Forderung nach zusätzlicher Zuwanderung wirkt derzeit fast wie ein Tabubruch.
RT: Der demografische Wandel ist Realität und bringt enorme Herausforderungen mit sich. Um unseren gewohnten Lebensstandard zu sichern, sind wir auf Fachkräfte angewiesen. Allerdings erreichen immer mehr Menschen das Pensionsalter, während weniger junge Erwerbstätige nachrücken. Dadurch öffnet sich die Arbeitsmarktschere zusehends. Das hat Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, die sozialen Sicherungssysteme und insbesondere die umlagefinanzierte AHV.
Wie damit umgehen?
RT: Wir brauchen eine ehrliche Debatte über die Voraussetzungen für Wohlstand und Wachs‑ tum in der Schweiz. Ohne gezielte, qualifizierte Zuwanderung wird es nicht gehen. Gleichzeitig gilt es, das inländische Fachkräftepotenzial besser auszuschöpfen. Eine naheliegende Lösung wird dabei oft übersehen: Frauen ab 40, insbesondere in Kombination mit Co-Leadership-Modellen. Nach einer intensiven Familienzeit sind viele motiviert, beruflich wieder durchzustarten. Wir werden aber auch nicht darum herumkommen, künftig länger zu arbeiten.
Frau Lenzlinger, Zürich hat eine hohe Anziehungskraft, doch Wohnraum ist knapp. Ist Zürich gebaut?
KL: Ich hoffe nicht! Allerdings wird eine aus‑ reichende Wohnraumversorgung für alle Bevölkerungsgruppen zusehends zum kritischen Faktor. Es braucht dringend Massnahmen und Rahmenbedingungen, die ein angemessenes Angebot auch an preiswerten Wohnungen sicherstellen. Hemmende Regulierungen, wie etwa ein Vorkaufsrecht für Gemeinwesen oder ein Mietendeckel, bremsen nachweislich den Anreiz für Investitionen im Wohnungsbau. Nötig sind neue Ansätze und gezielte Erleichterungen bei den Regulierungen.
Die Wirtschaft hat an Mobilisierungskraft verloren. Wie kann sie das Vertrauen zurückgewinnen?
KL: Vertrauen entsteht dort, wo sich Worte in Taten spiegeln. Die Unternehmen dürfen zeigen, was sie leisten: Sie schaffen Arbeitsplätze, tragen zur Finanzierung des Staates bei und investieren in die Ausbildung junger Menschen sowie in die Weiterbildung ihrer Angestellten. Sie stellen dem Klimawandel nicht nur Absichten entgegen, sondern liefern Technologie und Innovation für mehr Nachhaltigkeit. Im Kanton Zürich sind Wirtschaftswachstum und CO2-Ausstoss längst entkoppelt. Die Wirtschaft wächst, während der CO2-Ausstoss gleichzeitig rückläufig ist. Als Zürcher Handelskammer stehen wir gegenüber unseren Mitgliedern in der Pflicht, diese Art der Kommunikation zu führen: glaubwürdig, ohne Überhöhung, aber hör- und sichtbar. So können wir bei denen, die mit der Wirtschaft hadern, Vertrauen zurückgewinnen. Denn eines ist klar: Standortpolitik ist kein Selbstläufer. Wer nicht selbst gestaltet, wird gestaltet.